Samstag, 7. April 2012

Der Eissturm [Ang Lee | USA 1997]


Swingerpartys, Partnertausch, Cybersex, Loveparade, das erste Mal mit 14, Brustimplantate, Oberteile mit Ausschnitt, geschiedene Ehen, Borats Badeanzug: Es hat etwas von einem zweiten Urknall, der irgendwo in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben muss, wenn man unsere heutige Gesellschaft mit der vor gerademal fünfzig Jahren vergleicht. Und tatsächlich gab es einen solchen Urknall mit der sexuellen Revolution Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, die ein Umdenken der Sexualmoral unserer Gesellschaft einleitete. Doch wenn man die oben genannten Beispiele als Resultate dieser Entwicklung heranzieht, stellt sich die Frage, ob der Wandel zu einer freizügigeren und sexuell aufgeklärten Gesellschaft tatsächlich positiv zu bewerten ist. Ang Lee stellt in seinem dramatischen Meisterwerk Der Eissturm zumindest das infrage, wovor viele Soziologen schon seit langer Zeit warnen: Dem Verfall unserer Gesellschaft.
Um sich nun möglichst tiefgreifend mit dem Thema auseinanderzusetzen, versetzt Lee uns zurück in die Zeit, in der alles ihren Anfang nahm und sich neue Anschauungen der Moralität bereits auf die amerikanischen Vorstädte ausbreiteten. Im Jahre 1973, wo die Worte Vietnamkrieg und Watergate-Affäre politische Diskussionen beherrschten, waren gemeinschaftliche Diskussionen schon von Ehekrisen und Vibratoren geprägt. Eine neue Redefreiheit etablierte sich, die kaum noch Tabus kannte und die Menschen über jede weitere abgeworfene Last sittlichen Denkens euphorisch stimmte, womit uns Lee gleich zu Beginn vertraut macht. Ben (Kevin Kline) und Elena Hood (Joan Allen) scheinen ihre Freiheiten in allen Zügen zu genießen. Doch umso tiefere Einblicke der Zuschauer mit fortschreitender Dauer in die familiären Beziehungen bekommt, desto deutlicher werden ihm die Missstände klar, die der gesellschaftliche Umschwung trotz seiner Vorteile mit sich bringt. Kinder ohne Kindheit sind Resultate mangelnder Erziehungserfahrung und Fürsorge der Eltern, die zunehmend der Gleichgültigkeit, der Lethargie und einem ungesunden Egoismus verfallen. Erst ein tragisches Ereignis scheint die handelnden Protagonisten schließlich aufzuwecken und Besserung anzustreben. Ein wenig zu spät möchte man meinen.


Dass Lee hier mit seiner geradezu minimalistischen Inszenierung eine solch ergreifende und aufwühlende Sozialstudie schafft, ist schlichtweg beeindruckend. Kühl und nüchtern passt er seinen Film auf die Grundstimmung seiner Figuren an, ohne jemals zu langatmig zu geraten, bis die Emotionen letztlich aus den Protagonisten, genau wie aus dem Zuschauer förmlich herausplatzen und in einem Meer voll Tränen münden.  Der gesamte Cast, angefangen bei einer 16jährigen Christina Ricci mit ihrer wohl bisher besten Karriereleistung bis zum für mich viel zu unterschätzten Kevin Kline, liefert hier fernab großer Gefühlsausbrüche, dafür aber mit authentischem und lebhaften Schauspiel eine regelrechte Meisterleistung ab. Worin aber die größte Stärke des Films liegt, ist seine Zurückhaltung, die dem Publikum weder eine Meinung aufzwingt, noch über seine Figuren mit dem großen Zeigefinger richtet. Stattdessen werden wir aufgefordert, uns zu hinterfragen, werden nachdenklich gestimmt und schließlich in dramatischen Gefilden vom Schicksal ergriffen und erschüttert. Unfassbar also, dass Der Eissturm an den Kinokassen floppte, aber das ist wiederum ein anderes gesellschaftliches Dilemma. Wahrscheinlich sollte Lee darüber auch noch einen Film drehen. 

9/10


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